Joachim Witt – Jetzt und ehedem!

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Joachim Witt – Jetzt und ehedem!

Er ist ein „Fels in der Brandung“ der deutschen Popmusik und mit dem 20. Album seiner Solokarriere gerade in den Charts. 2024 wird Joachim Witt 75 und seine Debüt-Single „Ich bin ein Mann“ 50 Jahre alt. Mehr als ein guter Grund für VIRUS, mit dem erst relativ spät zur „Schwarzen Szene“ gekommenen Künstler zu sprechen.

VIRUS:
Dein musikalisches Debüt „Ich bin ein Mann“ hast du 1974 noch als Julian veröffentlicht. Warum nicht unter deinem richtigen Namen?

Joachim Witt:
„Julian“ war für mich und das Team um mich herum ein Test, um zu sehen, wie er (bzw. ich) als Typ ankommt. Musikalisch absolut nicht mein geschmackliches Terrain und rückblickend betrachtet ziemlich hirnrissig, aber trotzdem ein wichtiger, wenn auch erfolgloser Anfang für mich, bevor ich mit Harry (Gutowski) und Wolfgang (Schleiter) die Gruppe Duesenberg (Anm. der Red.: drei Alben mit Joachim Witt in den 1970ern) gegründet habe.

VIRUS:
Den Durchbruch hattest du jedoch erst 1981 als Solokünstler mit deinem eigenen Album „Silberblick“ und der Single „Goldener Reiter“.

Joachim Witt:
Der „Goldene Reiter“ ist schon wesentlich früher entstanden. Ich fand den Song von Anfang an sehr stark, aber nicht unbedingt zum Konzept von Duesenberg passend. So ruhte er ein paar Jahre in der Schublade.

VIRUS:
Der Song ist heute absoluter Kult und ein Stück deutsche Musikgeschichte. Eigentlich wurde dazu schon alles gefragt und gesagt, oder?

Joachim Witt:
Vermutlich schon. Inspiriert dazu hatte mich u. a. „A Horse with No Name“ von America (1971), ein Song, den ich bis heute in seiner Monotonie und Schwermütigkeit sehr mag. Außerdem, das kann ich allerdings erst aus heutiger Sicht sagen, hat der „Goldene Reiter“ einen soziopathischen Hintergrund, auf den ich jetzt aber nicht weiter eingehe.

VIRUS:
Er fängt auch ein bisschen die Stimmung von „Einer flog übers Kuckucksnest“ von Milos Forman (1975) ein, oder?

Joachim Witt:
Ja, absolut! Ein toller Film mit Jack Nicholson, der mich fünf Jahre später auch in „Shining“ (von Stanley Kubrick) sehr überzeugt hat.

VIRUS:
Du magst also Horrorfilme?

Joachim Witt:
Es kommt auf den Horror an. Wenn sie ernsthaft und erdrückend sind, ja. Mit dem ironischen, übertriebenen Horror kann ich weniger anfangen. Die „Nightmare on Elm Street“-Filme und Freddy Krueger fand ich zu ihrer Zeit tatsächlich sehr verstörend. In den letzten Jahren haben mir die Filme der „Purge“-Reihe sehr gut gefallen.

VIRUS:
Nicht unbedingt „Horror“, aber dafür schon ziemlich bizarr und surreal ist dein Auftritt in der Kindersendung „Spielbude“ (1982), in dem du deinen Song „Tri tra trullala (Herbergsvater)“ zum Besten gibst und die Kinder im Publikum dich ungläubig und verständnislos anstarren.

Joachim Witt:
Ja, begriffen haben die Macher der Sendung das Lied offensichtlich nicht, sie hatten nur den Kinderreim „Tri tra trullala“ im Kopf. Andererseits hatte die „Spielbude“ immer auch musikalische Beiträge und mir ging es darum, den Song auf breiter Ebene bekannt zu machen. Also musste ich nicht lange überlegen, dort aufzutreten.

VIRUS:
Deine Texte funktionieren oft auf mehreren Ebenen und sind nicht selten auch ziemlich gesellschaftskritisch. Allgemein scheint es so, als wäre die Popmusik der 1980er politischer und kritischer gewesen. Ist das wirklich so?

Joachim Witt:
Es war damals zumindest einfacher, eine Meinung zu haben und diese öffentlich zu kommunizieren, ohne gleich einen Shitstorm zu entfachen oder gecancelt zu werden. Sicher, zu einem allgemeingültigen Thema wie „Frieden“ kann auch heute noch jeder etwas beitragen, aber die Teilnahme an einem „Friedenskonzert“ zum Beispiel würde ich nicht als Akt der Zivilcourage betrachten – dazu bringt es leider auch nicht sehr viel.

VIRUS:
Aber warum hält sich ein Großteil der Künstler zum Beispiel beim Thema Ukraine-Krieg so auffallend zurück?

Joachim Witt:
Weil auch die Gesellschaft bei diesem Thema gespalten ist. Wenn deine Meinung nicht dem vermeintlichen „Mainstream“ entspricht, riskierst du als Künstler, boykottiert zu werden, keine Engagements zu bekommen etc. Dabei ist ja die Frage, ob es sowas wie eine Mainstream-Meinung überhaupt gibt oder ob das nur etwas ist, was von den Medien propagiert wird. Meine persönliche Erfahrung ist, dass es sehr wohl ganz viele, unterschiedliche und sehr differenzierte Meinungen zu vielen Themen gibt und oftmals gar keine eindeutige Mehrheits-Meinung.

VIRUS:
Ein kritisches Statement sind auf jeden Fall die Songs „Signale“ und „Propaganda“ aus deinem aktuellen Album …

Joachim Witt:
Ja, wenn auch charmant und ironisch verpackt. Die „Kritik“ ist in meinen Texten zentral, manchmal nur unter der Oberfläche. Die Vielfalt von Meinungen ist das Wichtigste überhaupt. Insofern bin ich bei diesem Thema absolut bei Elon Musk, wenn er möchte, dass Twitter bzw. X ein Ort sein sollte, an dem jeder seine Meinung kund tun kann.

VIRUS:
… auch wenn es ausartet und in Hate Speech mündet?

Joachim Witt:
Es artet ja auch mal auf dem Fußballplatz aus, wenn sich Leute nicht im Griff haben, man braucht natürlich entsprechende Regeln und Grenzen. Aber die sollten weit gefasst sein. Ich bezweifle jedoch, dass der „Digital Services Act (DSA)“, den die Europäische Union gerade verabschiedet hat, der richtige Weg ist.

VIRUS:
Hat man als Künstler mit einer großen Fangemeinde im Rücken Einfluss auf die wichtigen Themen dieser Zeit?

Joachim Witt:
Man sollte auf jeden Fall seine Weltanschauung nicht verstecken und mit seinem Schaffen Stellung zu den Themen beziehen. Es ist schade, dass wir in einer Zeit leben, wo viele Künstler sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen, wenn diese nicht der vorherrschenden oder „vorgegebenen“ Meinung entspricht.

VIRUS:
Was hat sich in der Musikwelt der letzten 50 Jahre außerdem verändert, mal abgesehen von der Digitalisierung?

Joachim Witt:
Es ist sehr schwer geworden, als Künstler Geld zu verdienen, wenn du nicht gerade viele Konzerte für mehrere tausend Zuschauer gibst. Die Tantiemen, die du von den Plattenfirmen und Vertriebsplattformen wie Spotify und Co. bekommst, sind lächerlich bzw. unverschämt gering. Für junge Künstler und Bands, die am Anfang ihrer Karriere stehen, ist es nahezu unmöglich, mit der Musik Geld zu verdienen.

VIRUS:
Warum gibt es keinen Widerstand gegen dieses bestehende System?

Joachim Witt:
Den wird es irgendwann geben, dann knallt es. Die Konzerne leben gut von der Kunst, geben aber kaum etwas weiter, um ihre Künstler am Leben zu halten. Das wäre nicht nur fair, sondern auch vernünftig. Diese Form des Kapitalismus ist einfach unterirdisch …

VIRUS:
Angenommen, du könntest in der Zeit zurückreisen, zum Beispiel ins Jahr 1974, was würdest du anders machen oder deinem jüngeren Ich mit auf den Weg geben?

Joachim Witt:
Gar nichts! Ich möchte nicht in diese Zeit zurück. Nicht, weil die 70er eine schlechte Zeit gewesen wären, aber ich war zu dieser Zeit in der Selbstfindungsphase und ständig unter Druck. Bis auf das Kiffen ab und zu, war diese Zeit sehr stressig für mich.

VIRUS:
Du hast dich in den 70ern auch als Schauspieler versucht …

Joachim Witt:
Ja, als Affe in einem Underground Musical („Gorilla Queen“) zum Beispiel, später habe ich auch Schauspielunterricht genommen und kurze Zeit am Theater gearbeitet, aber Musik war auch während dieser Zeit immer meine Hauptbeschäftigung. Darüber hinaus stört mich an der Schauspielerei auch, Anweisungen zu erhalten. Da bin ich als Musiker freier.

VIRUS:
Während deiner Karriere gab es auch Flops, wie zum Beispiel dein 1985er-Album „Moonlight Nights“. Lag das an den englischen Texten?

Joachim Witt:
Die Zeit nach der „Neuen Deutschen Welle“ war für die meisten deutschen Künstler schwer. Publikum und Medien waren einfach übersättigt und wollten davon nichts mehr wissen. Also habe ich Deutschland den Rücken gekehrt und mit Peter Sawatzki (Anm. der Red.: Mitbegründer der Synthie-Pop-Band Boytronic) ein englischsprachiges Album aufgenommen … das sich allerdings nicht gut verkauft hat.

VIRUS:
Dafür lief es dann ab 1996 wieder richtig gut für dich. Mit neuem Look, neuem Sound, dem Album „Bayreuth 1“ und vor allem der Single „Die Flut“ (mit Wolfsheim-Sänger Peter Heppner).

Joachim Witt:
Rückblickend betrachtet waren „Silberblick“ (1980) und „Bayreuth 1“ (1998) meine wichtigsten Alben. Gerade „Bayreuth 1“ ist ein spektakulärer Wendepunkt meiner Karriere, auf dem alles, was danach kam, aufgebaut hat.

VIRUS:
Plötzlich warst du kein NDW-Star mehr, sondern ein wichtiger Vertreter der NDH („Neuen Deutschen Härte“) und ein beliebter Künstler in der Schwarzen Szene. War das beabsichtigt?

Joachim Witt:
Nein, ich hatte nicht die Absicht, Musik für eine bestimmte „Szene“ zu machen. Es hat sich einfach so ergeben. Die Musik kam in der Gothic-Szene gut an und ich wurde auf entsprechende Festivals eingeladen (Anm. der Red.: zum Beispiel das M’era Luna-Festival in Hildesheim). Aber abgesehen davon fühle ich mich in dieser Szene sehr wohl. Ich mag die Einstellung der Menschen, sie gehen gedanklich tiefer als der Mainstream, sie sind mega freundlich und friedfertig.

VIRUS:
Nicht nur deine Musik ist dunkel und schwermütig, auch dein Look. Für das neue Album hast du dich in eine Art Prediger mit Pentagramm-Amulett verwandelt.

Joachim Witt:
Für mich ist jedes Album ein in sich stimmiges Gesamtkonzept. Dazu gehören der allgemeine Sound, die einzelnen Songs, die zum Album passen müssen, und auch der Look, das Album-Cover etc. „Der Fels in der Brandung“ ist beispielsweise deutlich poppiger im Vergleich zur vorangegangenen „Rübezahl“-Trilogie, insofern wollte ich auch weg vom „schratigen“ Berggeist-Look. Das Pentagramm (Anm. der Red.: mit der spitzen Seite nach oben) ist übrigens schon lange mein Glücksbringer. Aber im Prinzip kommt es auf die Botschaft der Songs an, und die wäre selbst in einem Hawaii-Hemd die gleiche.

VIRUS:
Können wir uns den privaten Joachim Witt auch so „schwarz“ vorstellen? Womit beschäftigst du dich sonst?

Joachim Witt:
Hauptsächlich beschäftige ich mich mit der Musik, meiner Familie, meinen Enkelkindern. Ich schaue auch gerne Filme und Serien, zum Beispiel „Stranger Things“, wobei … Serien nötigen dich zum Weiterschauen und sind damit echte Zeitfresser. Da ist mir ein guter Film lieber.

VIRUS:
Welche Musik hörst du privat?

Joachim Witt:
Am liebsten ein absolutes Kontrastprogramm zu meiner eigenen Musik. Ich sitze gerne nachts alleine da, schaue in die Sterne und höre Chet Baker (Anm. der Red.: 1988 verstorbener Jazzmusiker). Das hilft mir, runterzukommen.

VIRUS:
Du liest auch?

Joachim Witt:
Na klar, zum Beispiel „Niemalsland“ von Neil Gaiman („Sandman“, „American Gods“, „Coraline“). Das ist ein unglaublich starkes Buch und ich bin stolz, dass ich für den Neverwhere-Sampler „Where’s Neil When You Need Him?“ (2006) einen Song („Vandemar“) beisteuern durfte. Auch die Musik für die „Dorian Hunter“-Serie (2009) hat mir damals extrem viel Spaß gemacht.

VIRUS:
Du wirst nächstes Jahr 75, nimmst regelmäßig neue Musik auf, gibst Konzerte … Wie schaffst du es, mental und körperlich so fit zu sein?

Joachim Witt:
Es mag banal klingen und man hört es ständig, aber … Ernährung und Bewegung sind die zentralen Faktoren, um gesund zu bleiben. Sicher muss man sich im Alltag oft dazu zwingen, aber es ist nun mal so: Ohne regelmäßige Bewegung und bewusste Ernährung ist kein langes Leben möglich. Das Wichtigste passiert jedoch im Kopf: Du musst geistig flexibel bleiben und versuchen, nicht zu bequem zu werden. Am besten ist es, wenn man immer wieder Pläne macht und sich neue Projekte vornimmt.

VIRUS:
Also bleibst du uns noch eine Weile erhalten?

Joachim Witt:
Zumindest weiß ich, dass alles im Leben endlich ist und auch meine Zeit langsam knapp wird. Das setzt mich unter Druck, mehr Tempo zu machen, neue Projekte umzusetzen, noch Dinge zu erleben. Aber dieser Druck ist nichts Schlechtes, denn er hält mich aufrecht.

VIRUS:
Was steht bei dir als nächstes an?

Joachim Witt:
Ab Februar 2024 planen wir eine Menge weiterer Club-Konzerte zum aktuellen Album. Ich hoffe, ihr seid dabei!

VIRUS:
Das sind wir bestimmt. Danke für das Interview und alles Gute.

Joachim Witt